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Die Wasser- ist auch eine Eisscheide

EHWS Alpin, Etappe 18: Iffigenalp - Les Violettes (Montana)

Plaine-Morte-Gletscher. Dahinter (rechts) der Wildstrubel.
Plaine-Morte-Gletscher. Dahinter (rechts) der Wildstrubel.

Einen halben Tag lang gab es nur eine Richtung: nach oben. Rund 1300 Höhenmeter sind ab der Iffigenalp zu überwinden, dann überschreitet man auf der Weisshornlücke die Wasserscheide. Kurz darauf erstarrt diese zu Eis: Direkt unter den Füssen breitet sich das grandiose Gletscherplateau von Plaine-Morte aus. Den Anblick teilt man mit Massen von Touristen: Eine Seilbahn bringt sie von Crans-Montana herauf und hinunter. Bei einer Zwischenstation weiter unten gesellte ich mich zu diesen und schwebte mit der letzten Fahrt zu Tale.

Noch einen Schönwettertag konnte ich mir in diesem Jahr für eine alpine Wasserscheiden-Etappe herausnehmen. An diesem wollte ich über Plaine Morte nach Montana hinüber gelangen. Um dies in einem Tag schaffen zu können, reiste ich schon am Vorabend auf die 1600 m hoch im hintersten Simmental gelegene Iffigenalp an. Ein Zimmer war in dem dortigen Berggasthof zwar keines mehr frei (es war Samstagabend), aber in dem danebenstehenden Stall fand ich noch ein Plätzchen im Matratzenlager. Den auf der Website angedrohten Rindergeruch nahm ich in Kauf.

 

Am Himmel, von dem sich freilich über dem engen Tal nur ein schmaler Streifen zeigte, war kein Wölkchen zu sehen, als ich am Sonntagmorgen um acht Uhr aufbrach. Die nahe Luftseilbahn war nicht in Betrieb und wäre es ohnehin nur für die Schweizer Armee, die auf dem Weisshorn oben eine Anlage zur Luftraumüberwachung betreibt.


Iffigenalp - Les Violettes (Montana)
Etappe EHWS Alpin, Nr. 18
  (Fernwanderprojekt EHWS)
Länge / Zeit 15,1 km / 6h30'
Auf- / Abwärts 1'602 m / 945 m
Höchster Punkt 2'934 m (Tothorn)
Tiefster Punkt 1'583 m (Iffigenalp)
Fernwanderwege ----
Durchgeführt Sonntag, 25. August 2019
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Wasserfall am Rawil-Saumpfad.
Wasserfall am Rawil-Saumpfad.

Es blieb mir somit nichts anderes übrig, als zum zweiten Mal innert acht Tagen – diesmal in Bergrichtung – den alten Rawil-Saumpfad unter die Füsse zu nehmen.

 

Dieser beginnt direkt neben dem Stall sofort anzusteigen, im Zickzack durch Wald und eine Geröllhalde zu der das Tal gegen Süden absperrenden Felswand hinauf, die er dann als schmaler Sims über zuweilen schwindelerregenden Abgründen schräg durchquert. Wie schon auf dem Hinweg versuchte ich mir vorzustellen, wie die Maultiere es seinerzeit geschafft haben mochten, mit den Hufen auf dem Weg zu bleiben, ohne die ihnen aufgebürdeten Weinfässer an den Felsen kaputt zu scheuern.

 

Gegen halb zehn überschritt ich auf dem flach geneigten Plateau, auf das man oberhalb der Steilstufe gelangt, die Schattengrenze. Ich freute mich über diese ersten Sonnenstrahlen und die grünen Alpweiden und lockerte die Gangart, als ich plötzlich stolperte und kopfüber auf dem Weg aufschlug – ausgerechnet auf diesem flachsten, einfachsten und gefahrlosesten Wegstück des Tages! – Wie hiess es doch in jenem alten Spruch: Menschen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel! (In meinem Fall war es wohl sogar bloss die Kante eines banalen Steins…) Aber zum Glück blieb ich ausser einigen Schürfwunden an den Händen gänzlich unversehrt.

Umweg zur Wildstrubelhütte

Eringerkühe oberhalb der Rawilalp.
Eringerkühe oberhalb der Rawilalp.

Einen abzweigenden Weg, auf dem man parallel zur Seilbahn direkt zu der hoch oben unterhalb des Weisshorns auf einem Balkon hockenden Wildstrubelhütte hinauf gelangen könnte, liess ich links liegen; stattdessen bevorzugte ich den Umweg zum Rawilpass, um dort die Wasserscheide zurückzugewinnen, von der ich vor acht Tagen nur zwecks eines nicht vermeidbaren Unterbruchs ins Tal heruntergestiegen war. Erst jetzt also – kurz vor halb elf – begann ich mit der eigentlichen Fortsetzung meiner Tour und verliess den Saumpfad. Entlang einer Rippe aus Schrattenkalkfelsen, die sich in südöstlicher Richtung quer über die Passhöhe zieht und die Einzugsgebiete von Simme und Liène (und damit von Rhein und Rhone) trennt, schritt ich dem von Rohrbachstein und Weisshorn dominierten Gebirgskamm entgegen. Zwischen den Felsen boten sich immer wieder wunderschöne Ausblicke über die breite Hochebene der Rawilalp, auf der Schwemmkegel von Bachläufen gleitend in Moore und grüne Weiden übergingen. Noch auf knapp 2500 Metern stiess ich auf eine Herde Eringerkühe, das Gras bot ihnen offenbar auch hier oben noch ausreichend Nahrung. Gleich darüber verlor sich aber die Vegetation in der steiler werdenden Nordflanke des Rohrbachsteins, an die sich der Pfad nun schmiegte; links sah ich auf ein Zwischenplateau mit drei tiefblauen Bergseelein («Rawilseeleni» geheissen) und der Mittelstation der Militärseilbahn hinunter. Vorübergehend wieder auf der bernisch-rheinischen Seite der EHWS, ging es nur noch durch Geröll und anderes Lockergestein immer steiler aufwärts, zuletzt zickzackend und kraftraubend durch ein Couloir, in dem Gegenverkehr nicht sehr willkommen ist.

Käseschnitte mit Panorama

Bei der Wildstrubelhütte. Rohrbachstein.
Bei der Wildstrubelhütte. Rohrbachstein.

Genau vier Stunden nach dem Aufbruch hatte ich mein erstes Zwischenziel erklommen. Auf der belebten Terrasse vor der Wildstrubelhütte sitzend und eine Käseschnitte mit Speck und Ei verspeisend, genoss ich die Weitsicht über die nördliche Voralpenlandschaft und den prächtigen Überblick über das durchwanderte, durch Rawilalp und Kaltwassertal gebildete Hochtal mit der massigen «Lapiaz»-Zone von Ténéhet und der Wildhorngruppe gegenüber. Sehr gut konnte ich mit den Augen dem Verlauf der EHWS folgen: vom Wildhorn über das Schnidehorn zu der Pyramide des Mittaghorns alias «Tachaigne», von dort zum Rawilpass hinunter und diesseits zu dem kastenförmigen Rohrbachstein hinauf, der jetzt von links auf mich herabsah.

Drehte ich mich um, sah ich den Seilbahndrähten entlang direkt zu dem mit Bauten überstellten Weisshorn hinauf; auch die Lücke in dem Grat, der dieses mit dem Rohrbachstein verbindet, war bereits gut zu erkennen. Der Weg dorthin steigt nur noch mässig an, und abgesehen von einem grösseren Schneefeld, dessen Betreten sich nicht vollständig vermeiden liess, bot er keine Schwierigkeiten. Er wurde denn auch – mit oder ohne Bike auf den Schultern – rege begangen und teilweise auch befahren. Auf der Weisshornlücke überschritt ich nochmals Kantonsgrenze und EHWS – und sah, wie der Raum sich öffnete. Plötzlich stellten sich meinen Augen in Gehrichtung keine aufsteigenden Hänge und Felsen mehr in den Weg, vielmehr glitten sie über ein weites, sich muldenförmig unter mir ausbreitendes Felsplateau zu Bergen in ihrer Höhe hinüber. Auf einem davon reckte sich ein weisses Türmchen in den Himmel, das musste die Wetterstation der Pointe de la Plaine Morte sein; erst weit hinten begrenzte ein Kranz schneebedeckter, höherer Gipfel den Horizont, mit dem Mont Blanc und dem Grand Combin am rechten Rand.

Und dann plötzlich dieses Eismeer!

Plaine-Morte-Gletscher mit Wildstrubel (links).
Plaine-Morte-Gletscher mit Wildstrubel (links).

Den Sensations-Moment des Tages erlebte ich aber erst etwas später beim Abstieg auf der Südseite des Passes: Plötzlich lag mir da der Plateaugletscher von Plaine-Morte zu Füssen, dieses Eismeer, das sich zwischen zwei langgezogenen Bergkämmen dahinstreckte! Ich überblickte es seiner beträchtlichen Länge nach von West nach Ost, eingerahmt vom Wildstrubel-Massiv zur Linken und einer etwas weniger hohen Kette zur Rechten, mit der Wetterstation als markantestem Punkt. Man stieg weiter hinunter, bis man den Gletscher meinte anfassen zu können, und dann am Westrand seines Beckens entlang zusammen mit der vom Weisshorn herabkommenden EHWS mässig wieder aufwärts, bis um halb drei auf der Südkante die 2926 m hohe Pointe de la Plaine Morte erreicht war. Hier konnte ich das Eisplateau nahezu in seiner ganzen Pracht überblicken; durch einen Einschnitt zwischen Gletscherhorn und Wildstrubel, durch den hindurch der Blick weit über das Simmental hinaus drang, senkte es sich nach Norden ab, während es sich im Osten zwischen den Bergkämmen zu verengen schien.

Pointe de la Plaine Morte: Portrait-Rahmen.
Pointe de la Plaine Morte: Portrait-Rahmen.

Auf dem Gipfel herrschte sonntägliche Betriebsamkeit, denn nur wenige Meter weiter unten stand die Bergstation der von Crans-Montana heraufführenden Seilbahn – jenes Verkehrsmittels, mit dem sich auch meine Biker-Freunde vor Wochenfrist hatten herauftragen lassen. Ganz der höchste Punkt des Tages war es aber noch nicht: Der erhob sich wenig östlich davon nach einem Sattel, zu dem ich zusammen mit Scharen anderer Leute, die offenbar zu Fuss zu Tale strebten, hinunterstieg. Dort verliess ich den Weg und die Menschenmenge für einen Abstecher und kraxelte, den Rucksack zurücklassend, auf einen Steinhaufen hinauf, der «Sé Mort» oder «Tothorn» hiess. Er überragt die «Pointe» um ganze acht Meter und bildet den vorerst letzten Punkt auf der Wasserscheide, der ohne Spezialausrüstung und –kenntnisse erwandert werden kann. Weiter nach Osten verläuft sie zunächst über den zackigen Grat von Les Faverges und fällt dann auf den Gletscher hinunter, um diesen der Breite nach in nordöstlicher Richtung zu überqueren. Denn ja: Der Plaine Morte-Gletscher lässt Wasser sowohl zur Nordsee als auch zum Mittelmeer hin fliessen, die Wasserscheide ist hier sozusagen tiefgefroren! Irgendwo im hinteren Drittel musste sich der Plateaugletscher unmerklich wölben und sich jenseits davon, an einer von hier aus nicht sichtbaren Stelle, zu dem Rhone-Zufluss La Tièche hin ergiessen, den ich mit dem Fernglas tief unten durch ein langes Trogtal am Südfuss des Faverges-Grates rinnen sah.

Die letzte Talfahrt ruft

Ich konnte mich kaum sattsehen – aber gegen Viertel vor vier wurde mir klar, dass ich mich loslösen musste, wenn ich die Zwischenstation von Les Violettes noch vor der letzten Talfahrt erreichen wollte. Ich sah diese etwa auf halber Höhe zwischen mir und dem Rhonetal auf einem Sporn am Hang eines Berges sitzen; ameisenhaft strömten ihr die Wanderscharen entgegen. Ich kraxelte zu dem Sattel zurück und nahm den breiten Fahrweg unter die Füsse, der sich in teils langen Serpentinen durch ein breites, muldenförmiges Couloir Richtung Montana hinabwindet. Die Ameisen mussten da bereits am Ziel sein, ich sah nur noch einzelne von ihnen weit unter mir. Kurz nach der Abzweigung des Wanderwegs zur Lämmerenhütte – meinem wohl nächsten Etappenziel – überholte ich noch eine Vierergruppe, die kaum vorankam, weil eines ihrer Mitglieder gestützt werden musste. Offenbar konnte die Frau nicht mehr auf beiden Füssen stehen. Was für ein Maulwurfshügel mochte ihr in die Quere gekommen sein? – Ich meldete es einem Seilbahnangestellten, der mir kurz vor der Station entgegenkam, einen letzten Kontrollgang vor Betriebsschluss durchführend. Er begann sofort herumzutelefonieren und bedeutete mir dann, dass man sich um die Leute kümmern werde.

Wenig später schwebte ich, neun Stunden nach dem Start, in der Luft über Alpweiden und bald auch schon Baumwipfel nach Crans-Montana hinunter, um von dort über das Rhonetal nach Hause zurück zu kehren.


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