Die Berner Alpen sind von Westen gesehen das erste zum alpinen Kerngebiet gehörende Teilgebirge, das von der Europäischen Hauptwasserscheide durchzogen wird. Ihre Ausdehnung wird unterschiedlich definiert; gemäss der weitesten Variante (welche die Waadtländer Alpen mit einschliesst) erstreckt sich ihr Hauptkamm über eine Länge von rund 100 km vom Rhoneknie bei Martigny bis zum Grimselpass. Gemeinhin werden sie in zwei unterschiedliche Hälften gegliedert: nämlich die Westlichen Berner Alpen und die (östlichen) Berner Hochalpen, wobei die Trennlinie über den Gemmipass verläuft.
Die EHWS tritt aber erst nach etwa einem Drittel der westlichen Hälfte in das Gebirge ein, nämlich auf dem Col du Pillon am Fuss des Diablerets-Massivs. Ihrem Verlauf bis zum Übergang in die Hochalpen habe ich an sieben Wandertagen nachgespürt. Dank der Nähe zu meinem Wohnort konnte ich die rund 83 km lange Strecke vom Pillon nach Leukerbad in vier Portionen (drei von je zwei Tagen und eine von einem Tag) einteilen, zu denen ich jeweils morgens oder am Vorabend aus Bern anreiste.
Berner Alpen West | |
Abschnitt | EHWS Alpin, Teil III |
(Fernwanderprojekt EHWS) | |
Länge / Dauer | 82,9 km / 7 Tage |
Durchgeführt | 8. August 2019 - 27. August 2020 |
Höchster Punkt | 3'107 m: Schwarzhorn (Gemmi) |
Tiefster Punkt | 1'379 m: Leukerbad |
Start | Col du Pillon |
Ende | Leukerbad |
Fernwanderwege | --- |
Weitere Facts & Figures | |
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Sie verteilten sich über die Sommermonate 2019 und 2020; längere Portionen – oder kürzere Intervalle – scheiterten an terminlichen oder meteorologischen Hindernissen und im Jahr 2020 zudem an Einschränkungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie.
Für den Verkehr stellen die Berner Alpen einen Riegel dar, der einzig durch die Eisenbahntunnel unter dem Lötschberg überwunden wird. Die eher dünn besiedelten Täler sind aber gut erreichbar und mit touristischen Infrastrukturen ausgestattet. Im westlichen Teil befinden sich beidseits des Hauptkamms grössere Ski- und Ferienorte mit teilweise auch im Sommer bedienten Transportanlagen. Beispiele auf der Nordseite sind Les Diablerets, Gstaad, Lenk, Adelboden und Kandersteg; auf der Südseite sind es Crans-Montana und Leukerbad. Dank mehrerer Berghütten des Schweizer Alpenclubs (SAC) und einzelner Berghotels sind auch mehrtägige Wanderungen ohne Talabstiege durchaus möglich; für eine Auswahl an Unterkünften reicht die Angebotsdichte in der Höhe jedoch nicht aus – erst recht nicht, wenn die Kapazitäten durch pandemiebedingte Abstandsregeln reduziert werden müssen.
Mit zahlreichen Gipfeln über 3000 m sind die Westlichen Berner Alpen zwar weniger hoch als ihre Fortsetzung im Osten, aber doch markant höher als die Voralpen. Dies zeigt sich auch in einer anderen Oberflächengestalt: Denn oberhalb von rund 2500 Metern hört die Vegetation auf ‒ und damit auch die Grundlage für landwirtschaftliche Aktivität. Statt Grashängen und Alpweiden dominieren nacktes Gestein und schroffe Felsen, da und dort auch Eis und bis weit in den Sommer hinein verharrende Schneefelder. Kalkgesteine, Karsthochflächen und Plateauvergletscherung sind für das Gebiet typische Erscheinungen.
Das Wandern stellt hier teilweise denn auch höhere technische und sportliche Anforderungen. Grössere Zonen sind nur schwer oder gar nicht zugänglich, Limiten muss sich jedermann den eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechend selbst setzen. Persönlich habe ich durch Kurse und geführte Wanderungen meine Bergtauglichkeit zu verbessern gesucht und mich so an die Herausforderung «Alpen» herangetastet. Steigeisen und Eispickel gehören aber weiterhin nicht zu meiner Ausrüstung, höhere Schwierigkeitsgrade als T4 (gemäss der Wanderskala des SAC) meide ich grundsätzlich, und einzelne Strecken kommen für mich nur zwischen etwa Mitte Juli und Ende August in Frage, wenn letzte Altschneeresten weggetaut sind. Als Einzelwanderer breche ich zudem nach wie vor nur bei optimalen Wetterverhältnissen auf.
Von den Waadtländer Voralpen her kommend, schwingt sich die EHWS vom Col du Pillon aus in südlicher Richtung direkt zum Hauptkamm der Westlichen Berner Alpen hinauf. Auf dem 3123 m hohen Oldenhorn erreicht sie diesen, um ihm dann nach Osten zu folgen. An drei Stellen wird der Kamm durch nicht (oder nicht durchgängig) befahrbare Passübergänge unterbrochen; sie heissen Sanetsch-, Rawil- und Gemmipass und gliedern ihn in die Teilgebirge Diablerets-Massiv, Wildhorn-Gruppe und Wildstrubelmassiv; östlich des Gemmipasses schliesst sich die Balmhorngruppe an, die jedoch bereits zu den Berner Hochalpen zählt. Die EHWS berührt in diesem Abschnitt Gipfel wie Arpelistock, Wildhorn, Mittaghorn (französisch «Tachaigne»), Rohrbachstein, Pointe de la Plaine Morte, Sé Mort (deutsch: «Tothorn»), Les Faverges oder Kleines Schneehorn. Ihren höchsten Punkt in diesem Abschnitt erreicht die EHWS mit 3250 Metern auf dem Wildhorn.
Nur im Sanetschgebiet, wo die dem Rhein-System zufliessende Saane südlich des Hauptkamms entspringt, verlässt die EHWS diesen für eine kurze Strecke. Eine Besonderheit weist sie zwischen Les Faverges und Kleinem Schneehorn auf, indem sie quer über den Plateaugletscher von Plaine Morte verläuft. Zweideutig stellt sich sodann die Situation in dem oberirdisch abflusslosen Gemmigebiet dar: Weil das Wasser dort nördlich der Passhöhe im karstigen Untergrund des Daubensees versickert, jedoch südlich von dieser wieder zu Tage tritt, nimmt die Wasserscheide je nach Sichtweise einen andern Verlauf. Bei einer rein topographischen Betrachtung zieht sie sich in einer annähernd geraden Linie via Schnee-, Rot-, Schwarz- und Daubenhorn zur Gemmi-Passhöhe; aus hydrogeographischer Sicht jedoch beschreibt sie einen Bogen um das Gemmi-Gebiet und die Versickerungsstelle herum und verläuft via Wildstrubel und Rote Totz über die sich nördlich des Daubensees aufwölbende Schwarenbach-Schwelle. (Östlich der Gemmi treffen die beiden EHWS-Varianten auf dem zur Balmhorngruppe gehörenden Rinderhorn wieder aufeinander.)
Zwischen Oldenhorn und Balmhorngruppe fällt die EHWS – vom Sanetschgebiet ausgenommen – zumindest aus hydrogeographischer Sicht weitgehend mit der Kantonsgrenze zwischen Bern und Wallis zusammen. Bis zum Wildstrubelmassiv ist diese zugleich eine Sprachgrenze; dort wird die Letztere jedoch zu einer innerkantonalen Grenze, die das französischsprachige Unter- vom deutschsprachigen Oberwallis trennt.
Abwandern lässt sich die EHWS in den Westlichen Berner Alpen kaum. Mit dem Col du Pillon lag der Startpunkt meiner Wanderroute zwar noch auf ihr; da ich sie aber beim Aufstieg zum Diablerets-Massiv schon bald in Richtung des schwer zugänglichen Hauptkamms entschwinden sah, kam es danach nur noch spärlich zu direkten Kontakten. Sie beschränkten sich auf den Tête aux Chamois oder Gemskopf, die Cabane des Diablerets, die Querung des Sanetschpasses und den anschliessenden Arpelisgrat, den Rawilpass, die Weisshornlücke, den Westrand des Plaine-Morte-Gletschers, die Pointe de la Plaine Morte und den Sé Mort. Im Gemmigebiet berührte ich zwischen Rothornlücke und Schwarzhorn noch ein kleines Stück ihrer topographischen Variante, die ich auf dem Gemmipass nochmals von Norden nach Süden überquerte.
Die Route, die ich nach Prüfung verschiedener Varianten schliesslich wählte, verlief grösstenteils auf der Rhone-Seite der EHWS und damit auf der südlichen (Walliser) Seite des Hauptkamms. Immerhin blieb die EHWS so fast immer in Sichtweite. Die bestehenden Verkehrs- und Touristikinfrastrukturen erlaubten mir trotz der durch die Proportionierung entstandenen Unterbrechungen eine lückenlose Routenführung. Ausser für die unterbrechungsbedingten Talabstiege waren keine Doppelbegehungen notwendig (einen Abstecher vom Gemmipass auf dem Grat der Plattenhörner unternahm ich freiwillig).
Wesentlich geholfen bei der Routenwahl und der Vorbereitung der Etappen hat mir das Wanderbuch «Rund um die Berner Alpen» des SAC. In ihm fand ich auch Routen, die auf keiner gedruckten oder digitalen Karte zu finden waren – so reich und qualitativ hervorragend das vorhandene Kartenmaterial auch ist. Unter anderem ist dies auf den Gletscherschwund zurückzuführen, der in relativ kurzer Zeit Wandermöglichkeiten erschweren oder erleichtern kann. Auf meiner Wanderung wirkte sich dies in zwei Fällen zu meinen Gunsten aus: Der Übergang über das Tsanfleuron-Gebiet zum Sanetschpass und der Abstieg vom Schwarzhorn zur Lämmerenhütte wären noch vor wenigen Jahren nicht ohne spezifische Ausrüstung möglich gewesen.
So aber traf ich im Allgemeinen auf bestens ausgeschilderte, meist weiss-rot, manchmal auch weiss-blau gekennzeichnete Pfade, die für fitte, trittsichere und adäquat ausgerüstete Wanderer gut begehbar waren. Einzelne kritische Stellen waren mit Fixseilen und Stufen gesichert. Einmal (nämlich im erwähnten Tsanfleuron-Gebiet) führte der Weg einige Kilometer weit über einen Plateaugletscher, der jedoch mit Raupenfahrzeugen präpariert war; zweimal mussten grössere Karrenfelder («lapiaz» auf Französisch) durchstiegen werden, nämlich die Lapiaz de Tsanfleuron und die Lapiaz de Ténéhet an der Südostflanke des Wildhorns. In sportlicher Hinsicht empfand ich die Tour aber insgesamt als anspruchsvoll. Die an einem Tag zu bewältigenden Höhenunterschiede beliefen sich nicht selten auf deutlich mehr als 1000 Meter auf- oder abwärts – und manchmal auch in beiden Richtungen.
Auf der fast durchgehend oberhalb der Baumgrenze (und oft auch der Vegetationsgrenze) verlaufenden Route finden die Augen viel Raum. Da man nicht mehr wie auf den Vorgängerabschnitten am Rand der Alpen, sondern in deren Innern geht, sind die Horizonte nicht mehr so unendlich, dafür scheinen es Zahl und Formenreichtum der Berge zu sein. Auf höheren Abschnitten geniesst man immer wieder grossartige Fernsichten – hauptsächlich nach Süden (da man durch die Südflanke des EHWS-Kamms geht), durch die Einschnitte der Passübergänge hindurch manchmal aber auch nach Norden. Je nach Blickrichtung unterscheiden sie sich markant: Während der Blick nach Norden über weniger hohe grüne Voralpenkämme und –gipfel hinweg gleitet, die sich horizontlos in der Ferne zu verlieren scheinen, sorgt im Süden ein Kranz aus weissen Viertausendern für eine klare Horizontlinie. Viele der höchsten Gipfel befinden sich in dem durchschnittlich etwa 40 bis 50 Kilometer entfernten Alpenhauptkamm an den Grenzen Frankreichs und der Schweiz zu Italien; Mont Blanc, Grand Combin oder Matterhorn sind nur einige Beispiele. Dass ich sie meist unverhüllt unter wolkenlosem Himmel sah, ist allerdings nicht selbstverständlich.
Unten siehst du, wie ich die Strecke in Etappen eingeteilt habe.
Etappe 14 (8. August 2019) |
Col du Pillon - Scex Rouge (Diablerets) |
6 km / 3h25' |
Etappe 15 (9. August 2019) |
Scex Rouge (Diableretes) - Sanetschbahn |
14,1 km / 4h15' |
Etappe 16 (16. August 2019) |
Col du Sanetsch - Cabane des Audannes |
9,2 km / 5h10' |
Etappe 17 (17. August 2019) |
Cabane des Audannes - Iffigenalp |
12,1 km / 6h |
Etappe 18 (25. August 2019) |
Iffigenalp - Les Violettes (Montana) |
15,1 km / 6h30' |
Etappe 19 (26. August 2020) | Les Violettes (Montana) - Lämmerenhütte | 14,2 km / 5h40' |
Etappe 20 (27. August 2020) | Lämmerenhütte - Leukerbad | 12,2 km / 4h10' |
Vorige Teilstrecke:
Projektabschnitt:
Nächste Teilstrecke:
Wie es mir beim Wandern ergangen ist, kannst du in meinem Blog nachlesen. Unten gehts direkt zu den entsprechenden Tagesberichten.
EHWS Alpin, Etappe 14: Col du Pillon - Scex Rouge (Diablerets)
Wie eine hohe, nahezu senkrechte Barriere türmte sich der Gemskopf mit seinen Felswänden südlich des Col du Pillon auf und schien mir den Zugang zu den Hochalpen zu verriegeln. Noch beim Anreisen war ich hin- und hergerissen: Konnte ich sie überwinden oder sollte ich sie doch besser umgehen? Dreieinhalb Stunden nach dem Aufbruch hatte ich sie bewältigt, und am Ende des Tages stand ich inmitten von Gletschern.
EHWS Alpin, Etappe 15: Scex Rouge (Diablerets) - Sanetschbahn
Eine zwischen zwei Gipfel gespannte Hängebrücke auf knapp 3000 Metern Höhe, eine Schneewanderung über Gletscher, ein langer, flacher Abstieg über eine abgeschliffene Karrenwüste und ein Eilmarsch zu einem Stausee hinunter: dies in Kürze die Abfolge dieser Etappe. Ich unternahm sie bei herrlichem Sommerwetter und klarer Sicht und hatte das Gefühl, über eine riesige alpine Dachterrasse zu gehen. Den weiten Horizont kränzten unzählige weisse Gipfel.
EHWS Alpin, Etappe 16: Col du Sanetsch - Cabane des Audannes
Wie zuvor schon das Oldenhorn erachtete ich auch die Gipfel der Wildhorn-Gruppe – die nächsten auf der EHWS – als nicht erwanderbar für mich. Ich passierte sie stattdessen durch ihre Südflanken. Das Wildhorn selbst bekam ich dort fast nie zu Gesicht, dafür aber eine wuchtig-urtümliche Bergwelt, die seinem Namen Ehre machte.
EHWS Alpin, Etappe 17: Cabane des Audannes - Iffigenalp
Durch zwei ineinander übergehende Hochtäler ging es «wild» weiter: Begleitet wurde ich auch heute vom Hauptkamm der Wildhorngruppe, und von vorne näherte sich das Massiv des Wildstrubels. Dabei erlebte ich Gegensätzliches: Im ersten Tal konnte man sich die Zähne am Schrattenkalk ausbeissen, im zweiten gemütlich über flache Alpwiesen flanieren.
EHWS Alpin, Etappe 18: Iffigenalp - Les Violettes (Montana)
Einen halben Tag lang gab es nur eine Richtung: nach oben. Rund 1300 Höhenmeter sind ab der Iffigenalp zu überwinden, dann überschreitet man auf der Weisshornlücke die Wasserscheide. Kurz darauf erstarrt diese zu Eis: Direkt unter den Füssen breitet sich das grandiose Gletscherplateau von Plaine-Morte aus. Den Anblick teilt man mit Massen von Touristen: Eine Seilbahn bringt sie von Crans-Montana herauf und hinunter. Bei einer Zwischenstation weiter unten gesellte ich mich zu diesen und schwebte mit der letzten Fahrt zu Tale.
EHWS Alpin, Etappe 19: Les Violettes (Montana) - Lämmerenhütte
Es war wiederum ein prächtiger hochsommerlicher Wandertag – aber durch das lange und schöne grüne Tal von Outannes ging ausser mir kein Mensch. So bemerkte niemand, wie ich über eine rund 3000 Meter hohe Hürde ins deutschsprachige Oberwallis hinüberstieg: Die Route scheint, obwohl bestens markiert, ein Geheimnis zu sein. Und nicht einmal über den Namen der Hürde besteht Konsens: Was hier Col du Schwarzhorn heisst, nennen sie dort Rothornlücke.
EHWS Alpin, Etappe 20: Lämmerenhütte - Leukerbad
Ein kurzer und ein langer Abstieg, beide scheinbar senkrecht in die Tiefe führend, dazwischen eine lange Gerade über den flachen Lämmerenboden: so das einfache und klare Profil dieser Wanderung. Ebenso klar scheint hier die EHWS zu verlaufen: nämlich entlang einer scharfkantigen Linie von jäh nach Süden abfallenden Felswänden, die sich vom Schwarzhorn im Westen über den Gemmipass zu den Plattenhörnern im Osten hinüberzieht. Doch der Schein trügt: Das Wasser unterläuft sie.