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Der Riegel ist geknackt

EHWS Alpin, Etappe 14: Col du Pillon - Scex Rouge (Diablerets)

Felswand des Tête aux Chamois. Rechts oben: Scex Rouge.
Felswand des Tête aux Chamois. Rechts oben: Scex Rouge.

Wie eine hohe, nahezu senkrechte Barriere türmte sich der Gemskopf mit seinen Felswänden südlich des Col du Pillon auf und schien mir den Zugang zu den Hochalpen zu verriegeln. Noch beim Anreisen war ich hin- und hergerissen: Konnte ich sie überwinden oder sollte ich sie doch besser umgehen? Dreieinhalb Stunden nach dem Aufbruch hatte ich sie bewältigt, und am Ende des Tages stand ich inmitten von Gletschern.

Auf dem Col du Pillon prallen Vor- und Hochalpen ziemlich hart aufeinander: Dem von hellen Kalkbändern dursetzten, fast lieblichen Grün auf der einen stellen sich auf der andern Seite der Passstrasse wuchtige, von vergletscherten Gipfeln gekrönte Granitfelsen entgegen. Für mich jedenfalls hatte das Massiv mit der abweisenden Felsfront des Tête aux Chamois («Gemskopf» auf Deutsch), dem dahinter in den Himmel ragenden Zacken des Oldenhorns und den weiss gebänderten Klötzen der Diablerets etwas Einschüchterndes, als ich mich ihm vor zwei Jahren annäherte.

Seither hatte ich zwar wacker an meiner Bergtauglichkeit «gearbeitet». Dennoch war ich mir nicht sicher, ob ich mir diesen sozusagen vertikalen Einstieg in die Hochalpen zumuten konnte: in mehr oder weniger gerader Linie zu der hinter dem Gemskopf versteckten Cabane des Diablerets empor, von dort weiter hinauf und hinter dem Oldenhorn hindurch über Gletscher Richtung Sanetschpass.


Col du Pillon - Scex Rouge (Diablerets)
Etappe EHWS Alpin, Nr. 14
  (Fernwanderprojekt EHWS)
Länge / Zeit 6 km / 3h25'
Auf- / Abwärts 1'559 m / 167 m
Höchster Punkt 2'936 m (Scex Rouge Bergstation)
Tiefster Punkt 1'543 m (Col du Pillon)
Fernwanderwege ----
Durchgeführt Donnerstag, 8. August 2019
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Weil sie der EHWS-Linie zunächst exakt und später immerhin noch auf Sicht folgte, faszinierte mich diese Route; sie war jedoch alpinen Charakters und auf Wanderkarten nicht oder nur abschnittsweise eingezeichnet, und der Aufstieg zur Berghütte war in verschiedenen Quellen mit Schwierigkeitsgrad T5 klassifiziert – das heisst über meinem persönlichen «Grenzwert» von T4. Vorsorglich hatte ich mir deshalb eine Alternativroute zurechtgelegt, welche die Diablerets-Oldenhorn-Gruppe in einem weit ausholenden Bogen auf der Nordseite umgehen würde; diese wiederum hatte jedoch den zusätzlichen Nachteil, dass der Nordaufstieg zum Sanetschpass gegenwärtig infolge eines Bergsturzes gesperrt war; ich würde ihn also mithilfe der dortigen Seilbahn überbrücken müssen. Schliesslich suchte ich Entscheidungshilfe durch eine Mail-Anfrage direkt bei der SAC-Hütte.

Da mir nur zwei Tage zur Verfügung standen und sich prächtiges Wetter ankündigte, wartete ich die mir angekündigte Antwort aber nicht ab. So fällte ich den Entscheid erst im Zug, als sie kurz vor Gstaad auf meinem Smartphone eintraf: Ja, der weiss-blau-weiss markierte Pfad zur Cabane hinauf war ohne Spezialausrüstung begehbar. Die Schwierigkeit entspreche eher der Stufe T4 – mit Ausnahme zweier etwas ausgesetzter Passagen, die jedoch mit Seilen und einer drei Meter hohen Leiter gesichert seien, schrieb die Hüttenwartassistentin. Auch für die von mir angestrebte Fortsetzung zum Scex Rouge hoch – der Bergstation der Seilbahn «Glacier 3000» – seien gute Bergschuhe ausreichend, nachdem die letzten Altschneefelder nun nahezu vollständig geschmolzen seien.

Blick in die Tiefe: Col du Pillon, Lac Retaud, Pic Chaussy-Kette.
Blick in die Tiefe: Col du Pillon, Lac Retaud, Pic Chaussy-Kette.

Dann also nichts wie los!, sagte ich mir, als ich auf dem Pillon aus dem Bus stieg. Direkt gegenüber der Talstation der Seilbahn, mit der man bequem zu den Gletschern der rund 3000 Meter hohen Diablerets-Gruppe hinauf schweben könnte, schritt ich an einer Informationstafel vorbei, die vor den Risiken eines Alpinwanderwegs warnt; bei deren Lektüre vor zwei Jahren hatte sie mir noch Respekt eingeflösst. Nach der fast dreistündigen Anreise und der eben erst getroffenen Routenwahl war ich nun aber so tatendurstig, dass ich mich von nichts mehr aufhalten lassen mochte; anders kann ich mir nicht erklären, weshalb ich schon die erstbeste Weggabelung übersah und zunächst eine Viertelstunde in die falsche Richtung ging… Einmal auf den richtigen Weg zurückgeschwenkt, begann der Weg sogleich steil durch hohes Gras und später Wald hinaufzuklettern; einige morastig-rutschige Stellen erinnerten an kürzlich niedergegangene Regenfälle. Nach etwa fünf Viertelstunden passierte ich die Baumgrenze, in Sichtweite der Stelle, an der die beiden Gondeln der Seilbahn sich kreuzen. Deren Tragseile verlaufen ziemlich exakt über der Linie der Wasserscheide. Letztere ist von Auge zwar nicht erkennbar, aber nun öffnete sich das Blickfeld nach beiden Seiten: nach rechts ins trogförmige Ormond-Tal hinunter, durch das die Eau Froide der Rhone zufliesst, und nach links zu den Voralpen des Saanenlandes, benannt nach dem Aare-Zufluss, der es zum Rhein hin entwässert.

Der Felswand und dem Himmel entgegen

Unter der Felswand.
Unter der Felswand.

Nun wurde es steiniger und atemberaubender, bald schaute man ein erstes Mal durch eine steile Felsrinne in die Tiefe, geradewegs auf das Dorf Les Diablerets hinab: Gewiss, wenn man hier zu lange hinunterstarrte, konnte einem schon schwindlig werden! Oberhalb der Rinne wandte sich der Weg nach rechts und stieg, die Seilbahn unterquerend, schräg über Lockergestein aufwärts. Irgendwann glaubte ich Stimmen zu hören – und tatsächlich: Hoch über mir sind Kletterer zu Gange, ich kann sie auch sehen, so nahe bin ich dem Klettersteig des Gemskopfs bereits. Halbwegs dreht der nun sehr schmale Pfad unter der Felswand um den Berg herum, eine Passage ist mit einem Drahtseil gesichert. Ich habe nun den Scex Rouge mit der Bergstation vor mir, hoch im Himmel schwebt die Gondel zu ihm hinauf. Den Steigmuskeln ein paar Minuten Erholung gönnend, führt der Pfad ein Stück weit horizontal durch den Steilhang, bis ein Schild die Fortsetzung für gesperrt erklärt. Nun geht es in steilem Zickzack wieder zum Rand der Felswand hinauf, der sich hier nach weiter oben zurückgezogen hat; das Felsband ist hier schmaler als auf der Nordseite. Nach einigen Schritten dem Rand entlang sehe ich mich plötzlich in einem engen steilen Couloir gefangen; es muss eine jener schwierigeren Stellen sein, denen die Route die T5-Klassifizierung verdankt. Mit Hilfe von Händen und grossen Schritten arbeite ich mich über die groben Steinblöcke hinauf. Am Einstieg zur Via Ferrata vorbei gelange ich in ein zweites, kaminähnliches Couloir, das sowohl mit Seilen als auch mit einigen im Fels fixierten Eisenbügeln gesichert ist – es ist wohl die von der Hüttenwartassistentin erwähnte Leiter. Ein paar durch Klimmzüge unterstützte Schritte, dann ist das Nadelöhr überwunden. Und da, kaum habe ich zum aufrechten Gang zurückgefunden, taucht zu meiner Überraschung auch schon meine heutige Unterkunft vor mir auf: Auf einem Sattel knapp unterhalb des Gemskopfs, sozusagen auf dessen Nacken hockt die «Cabane». Nur noch wenige Schritte ist es bis zu ihr, ich bringe sie schlendernd hinter mich.

Hier herrschte ein wenig Betrieb, der Ort ist ja auch über leichtere Zugänge erreichbar: Von der auf dem Gemskopf thronenden Mittelstation der Seilbahn etwa braucht man nur wenige Meter herunterzusteigen. Nach dem Begrüssen der Hüttenwartassistentin und dem Einquartieren setzte ich mich auf die Terrasse, löschte den Durst und beobachtete in den Felsen herumkraxelnde Wildtiere – aufgrund des Ortsnamens hielt ich sie zunächst für Gämsen, liess mich aber von den Leuten am Nebentisch belehren, dass es sich um Steingeissen mit Jungtieren handelte.

Und dann plötzlich diese Gletscher!

Glacier du Scex Rouge, Quellbach des Dar.
Glacier du Scex Rouge, Quellbach des Dar.

Der für mich noch vor kurzem unüberwindbar scheinende Riegel war nun also tatsächlich geknackt! Es kam aber noch besser: Auch der Scex Rouge liess sich heute noch erklimmen – es war ja erst 14 Uhr, und für den Rückweg gab es die Bahn. Die Hüttenwartassistentin wies mir mit der Hand den Weg: rechts vom Oldenhorn schräg durch die mit Lockergestein bedeckte Steilhalde hinauf, an zwei Schneefeldern vorbei, ich könne es nicht verfehlen, zumal auch noch einzelne andere Wanderer unterwegs waren. Die EHWS musste ich nun links liegen lassen, sie zog sich zum Gipfel des Oldenhorn hinauf, den ich für mich als zu schwer besteigbar erachtete. Die Seilbahn hingegen begleitete mich weiterhin, wenn auch in grösserer Distanz: Deren zweite Sektion schwang sich über die Abgründe der Dar-Fälle zum Scex Rouge hinauf. Von Gepäck befreit, stieg ich flott aufwärts; oberhalb der Geröllhalde wurde die felsige Landschaft immer spektakulärer, immer mal wieder sicherten Seile den Pfad. Nach rund vierzig Minuten verkündete eine blaue Tafel, dass ich eine Höhe von 2735 Metern erreicht und seit dem Col du Pillon 4 Kilometer zurückgelegt hatte. Kurz darauf bog ich um einen Felsen herum – und stand von einem Moment auf den andern vor einem mächtigen Gletscher, der sich über die gesamte Breite des Sattels zwischen Oldenhorn und Scex Rouge zu mir herunterwälzte: ein erhebender Anblick! Dass er schwitzte, war nicht zu übersehen und schon gar nicht zu überhören: Um mich herum rauschte und toste es von Wässerchen und Wassern – alles Quellbäche des Dar, die sich ausser Sicht, aber nur wenige Meter rechts von mir über die Felsen hinunterstürzten. Anmutige Eisesstille und ungebändigte Wasserwildheit fanden sich hier vereint.

Scex Rouge, Bergstation.
Scex Rouge, Bergstation.

Dem Gletscherrand entlang ging es weiter aufwärts, bis ich die Höhe des Sattels erreichte. Und hier breitete sich eine endlos scheinende weiss-blau-graue Ebene vor mir aus: Das war das Plateau des Tsanfleuron-Gletschers, das ich morgen zu überschreiten gedachte. An dessen Ende stach eine Felsnadel in den Himmel, das musste die berühmte «Quille du Diable» sein – weit dahinter lugten schneebedeckte Walliser Gipfel hinter dem Plateaurand hervor. Mit der Ruhe war es hier freilich schlagartig vorbei: Denn hier begann die Sphäre des alpinen Vergnügungsparks «Glacier 3000». Da führte ein Pistenbus Touristen über den Gletscher, die von der Seilbahnstation auf dem Gipfel per Sessellift heruntergeglitten oder mit dem «Alpine Coaster» heruntergerodelt kamen. Dort tummelten sich Reisegruppen posierend und Selfie-schiessend auf dem Eis oder standen Schlange bei Pistenbus oder Sessellift. Aber zum Glück streifte ich diese Unruhe nur kurz im Vorbeigehen. Denn angesichts des Angebots an Transportmitteln kämpfte sich niemand sonst zu Fuss durch den weglosen Permafrosthang hinauf! Diesen hatte ich kurz nach vier Uhr hinter mir, da stand ich auf diesem Fast-3000er-Gipfel der Diablerets-Gruppe bei der vom Architekten Mario Botta erbauten Bergstation.

Mit der prall gefüllten Gondel glitt ich wenig später auch schon wieder zur Mittelstation auf dem Gemskopf hinunter, wo ich als einziger ausstieg, um in fünf Minuten zur Cabane zurück zu gelangen: nochmals ein kleines Stück Wasserscheidenwanderung zum Abschluss eines Tages, der an hochalpinen Eindrücken schon einiges geboten hatte.

Erst hinter dem Jura ging die Sonne unter

Der Abend hatte aber noch eine unvergessliche Zugabe in petto. Da sassen wir – eine vierköpfige Familie (die einzigen Gäste ausser mir) und die Hüttenwartassistentin – vor der Cabane herum, umgeben von der in aller Ruhe grasenden Steingeissenherde – die Kinder zählten 14 Tiere – , und beobachteten, wie die Berge und die in der Tiefe sichtbaren Seen sich röteten und die Täler sich mit Schatten füllten. Ich hätte nicht gedacht, dass das Auge von hier bis zum Jura reichte – immerhin trennten uns mehrere Voralpenketten und das Schweizer Mittelland von ihm – , aber tatsächlich: Dort hinten, zwischen den Silhouetten der Leysin-Türme und des Pic Chaussy hindurch sahen wir, wie die Sonne kurz vor 21 Uhr über ihm verglühte.


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