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Walk on the Wild(horn) Side

EHWS Alpin, Etappe 16: Col du Sanetsch - Cabane des Audannes

Hinten das Wildhorn, rechts der Aufstieg zum Audannes-Pass.
Hinten das Wildhorn, rechts der Aufstieg zum Audannes-Pass.

Wie zuvor schon das Oldenhorn erachtete ich auch die Gipfel der Wildhorn-Gruppe – die nächsten auf der EHWS – als nicht erwanderbar für mich. Ich passierte sie stattdessen durch ihre Südflanken. Das Wildhorn selbst bekam ich dort fast nie zu Gesicht, dafür aber eine wuchtig-urtümliche Bergwelt, die seinem Namen Ehre machte.

Genau eine Woche nach der Tsanfleuron-Überschreitung bot sich mir die nächste Gelegenheit für eine Zweitagewanderung. Ich reiste via Sion von Süden her auf den Sanetschpass zurück: Das war zwar weiter als die nördliche Alternative via Gstaad, aber ich erreichte ihn nicht später als mit dieser (nämlich kurz vor elf) und kam dabei erst noch frisch an. Denn der Bus brachte mich direkt auf die Passhöhe, die im andern Fall zu Fuss vom Sanetsch-Staudamm her zu ersteigen wäre.

Für den August war es eher kalt, die Sonne teilte sich den Himmel mit Schleier- und andern Wolken, aber die Topographie sorgte ohnehin sogleich für Schweisstropfen. 


Col du Sanetsch - Cabane des Audannes
Etappe EHWS Alpin, Nr. 16
  (Fernwanderprojekt EHWS)
Länge / Zeit 9,2 km / 5h10'
Auf- / Abwärts 841 m / 587 m
Höchster Punkt 2'850 m (Col des Audannes)
Tiefster Punkt 2'253 m (Col du Sanetsch)
Fernwanderwege ----
Durchgeführt Freitag, 16. August 2019
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Denn vom ersten Schritt an ging es sportlich bergauf, und zwar auf der scharfen Kante der «Arête de l’Arpille» («Arpelisgrat» auf Deutsch). Diese schwingt sich aus dem dünnen Grasteppich des Passes heraus in einem sichelförmigen Bogen zu dem rund 800 Meter höheren Arpelistock hinauf. Ein markantes Stück Wasserscheiden-Wanderung! Der Grat bietet nur gerade Platz für die Füsse, und die setzt man besser nicht neben ihn, da beidseits kahle Hänge steil von ihm abfallen, allfälligen Regen kompromisslos entweder Richtung Nordsee oder Mittelmeer zu Tale schickend. Entsprechend rasch weiten sich beim Aufsteigen die Horizonte: Während im Rücken die Karrenzone von Tsanfleuron zu den vergletscherten Diablerets ansteigt, grüsst von links unten der See herauf, der sich dem Aufstauen der jungen Saane verdankt; in seinem Hintergrund verlieren sich grüne Berner Voralpen. Rechts winken weisse Viertausender von jenseits der Talsenke herüber, in deren Tiefe man die Rhone verborgen weiss.

Nach fünf Viertelstunden Aufsteigens verzweigte sich der Pfad in einen weiss-blau-weiss und einen weiss-rot-weiss markierten Ast. Der blau-weisse, also ein Alpinwanderweg, folgt der Biegung des Grats und der EHWS weiter zum Gipfel des Arpelistocks hinauf. Zwei, drei Leute sah ich weiter oben sich durch das felsige Gelände hinaufarbeiten. Dem Gipfel hätte ich durchaus auch gerne einen Besuch abgestattet, aber ich verzichtete darauf, weil ich nicht sicher war, dass ich ihm technisch gewachsen wäre (mein SAC-Buch stufte ihn mit Schwierigkeitsgrad T5- ein), und weil ich befürchtete, durch diesen Abstecher zu viel Zeit und Kraft zu verlieren. Kraft, die ich noch benötigen würde, denn mit dem Col des Audannes lag noch ein happiges Hindernis (Schwierigkeitsgrad T4) zwischen mir und der gleichnamigen Hütte. Auch wenn ich aufgrund der eingeholten Mailauskunft des Hüttenwarts annehmen durfte, dass es dort im Moment schneefrei war.

Einfach gut aufpassen

So liess ich denn Wasserscheide und Gipfel links liegen und folgte stattdessen dem rot-weissen Bergwanderweg, der sich an die geröllbedeckte Südflanke der Bergkette schmiegte, über die sich die EHWS zum Wildhorn hin zog. Der leicht abwärts geneigte Weg bot vorerst Gelegenheit, die Beine zu lockern und die Augen an der sich verengenden und rauer werdenden Berglandschaft zu weiden. Aus dieser kamen mir drei Schweizerdeutsch sprechende junge Frauen entgegen. Sie befanden sich auf einer Mehrtagestour, waren dabei auch Wege gegangen, die ich in umgekehrter Richtung vor mir hatte; in der Wildstrubelhütte hatten sie schon übernachtet und zuletzt in jener von Audannes. Ihre Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen: Phantastisch sei es, ein einmaliges Erlebnis, berichteten sie. Und nein, Schneefelder hätten sie am Col des Audannes keine angetroffen, man müsse einfach sehr gut aufpassen - «aber das muss man ja immer in den Bergen.» - Wie wahr!, sagte ich (und dachte es auch). Dann war es still und ich für den Rest des Tages so gut wie allein. Ich schritt durch die langgezogene Talmulde von Grand’Gouilles, eine abgeschlossene Welt aus Fels und Geröll, durchsetzt mit einzelnen Schneefeldern, die ein paar kleine und ein grösseres Schmelzwasserseelein speisten. Archaisch und unberührt mutete sie an, aber in ihrem niedrigsten Bereich kämpfte sich Vegetation durchs Gestein; kleine Gräser und Blumen sprenkelten dieses gelb, weiss, grün und rosa.

Gelber Wegweiser im Himmel

Fixseile und zuoberst ein Wegweiser.
Fixseile und zuoberst ein Wegweiser.

Ich näherte mich einem massigen Gebirgsklotz, der quer zum Hauptkamm stand und mir den Weg zu versperren schien; durch seinen öden und abweisend wirkenden Steilhang zog sich aber eine von blossem Auge kaum sichtbare, feine Zickzacklinie bis fast ganz hinauf, wie eine Bleistiftzeichnung in Sand. Einen Schwemmkegel und einen Bach überquerte ich, dann stand ich an seinem Fuss, und es begann ein Aufstieg, mit dem verglichen der Arpelisgrat nur eine Aufwärmübung gewesen war: Steiler konnte ein Wanderweg kaum sein! Wenigstens fanden die Schuhe Halt auf dem kantigen Splittergestein, aber ich war froh, dieses trocken anzutreffen. Hartes, geduldiges Arbeiten brachte mich allmählich nach oben. Die unzähligen Zickzacks erlaubten immer wieder Ausblicke sowohl auf die zurückgelassene Grand’Gouilles hinunter als auch vorwärts zu dem dramatisch gezackten Kamm hin, der sich von dem Col nach Süden zog. Wie eine Barriere riegelte dieser die Talmulde ab, deren Wasser Richtung Rhone hinunter zwingend. Ihm entgegensteigend, blickte ich in seine schroffen Felswände hinein, dann zu seiner messerscharfen Kammlinie hinüber und später auf diese hinab. Als der letzte Zickzack geschlagen war, galt es den Hang zu traversieren. Ein erstes Fixseil sicherte den Pfad. Er führte zu einem hohen Felsband hin, das von dessen unterem Rand aus fast unüberwindlich vertikal schien; aber hoch oben auf der Kante – im Himmel! – erspähte ich einen gelben Wegweiser, der hoffen liess. Weitere Fixseile, Leitern und in den Fels gehauene Stufen halfen beim Hinaufklettern, doch die Partie war lang, das Arbeiten wurde zum Krampfen. Umso üppiger schossen die Glückshormone ins Blut, als ich – nach eineinhalb Stunden Steigen – den Wegweiser erklomm: Wow, welch eine Freude! Und diese Aussicht!

Der Col des Audannes erwies sich nicht als ein Passdurchgang zwischen zwei Gipfeln, sondern eher um eine Schulter, sodass er fast eine Dreiviertel-Rundsicht bot, von den Diablerets über die südlichen Walliser Viertausender zu östlicheren Gipfeln; erspähen konnte ich in einiger Entfernung auch bereits die etwa 400 Meter tiefer gelegene Cabane. Nur zur Nordseite hin war die Sicht verstellt: Hier sass ein rundlicher, je nach Karte als Pucé oder Mont Pucel bezeichneter Felsbuckel auf der Schulter und verdeckte den ihn nur knapp überragenden Kopf: das 3250 Meter hohe Wildhorn.

Leuchtende Gesteinsfarben

Audannes, unterhalb La Selle.
Audannes, unterhalb La Selle.

Ebenso atemberaubend wie die Aussicht war leider auch der scharfe und kühle Wind; ich begnügte mich deshalb mit einer kurzen Stehrast. Auch beim Abstieg gab es zunächst eine seilgesicherte Passage mit Stufen, sie war aber deutlich weniger steil und lang. Bald war der Sattel von La Selle erreicht, wo ein Wegweiser spielerisch auf die nahende Verpflegungsmöglichkeit hinwies: Noch 50 Minuten sei es bis zu einem Kaffee, deren 45 bis zu einem Obstkuchen, versprach er etwa. Ich suchte mir erst einmal ein windgeschütztes Plätzchen und setzte mich hin, um die faszinierend bunte Gesteinslandschaft zu geniessen, die sich hier ausbreitete; die Palette enthielt Gelb-, Braun- und Rottöne, die in der späten Nachmittagssonne besonders leuchteten. Dann hiess es nur noch ein kurzes Stück gemächlich abwärts trotten, und um 17 Uhr traf ich bei der auf einer Terrasse über einem Bergseelein hockenden Cabane des Audannes ein. Die kleine und feine Hütte bot alles, was ein Wanderer zur Stärkung braucht – aber keine Möglichkeit, mittels Smartphone mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Die Netzlücke hielt die Erinnerung daran wach, dass man von Wildnis umgeben war.


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